Zwei Tage, eine Nacht (2014)
- Originaltitel Deux jours, une nuit
- Regie
- DarstellerInnen
- Buch
- Entstehungsjahr 2014
- Land Belgien
- Filmlänge 95 min
- Filmstart 30.10.2014
- FSK 6
- Genres
Bewertung
Filminhalt
Das Telefon klingelt, und los geht’s. Der Film steht nicht mehr still, auch nicht die Kamera, die Sandra (Marion Cotillard) nicht von der Seite weicht. Sandra nimmt es mit einem Dutzend Gegner auf, ringt mit ihnen und fightet. Sie geht zu Boden, steht wieder auf, steckt wieder ein, teilt aus. Nein, dies ist nicht Jasmin Bourne oder ein weiblicher 007. Die Heldin von „Zwei Tage, eine Nacht“ will einfach ihren Job nicht verlieren. Jean-Pierre und Luc Dardenne benötigen keine Stunts und Schießereien – für sie ist der Überlebenskampf in der neokapitalistischen Arbeitswelt Thriller genug. Sandra steht kurz vor der Arbeitslosigkeit. Weil ihr Arbeitgeber nicht ihre Stelle und die Boni der anderen Mitarbeiter bezahlen kann, hat er abstimmen lassen: Sandra oder 1 000 Euro. 14 zu 2 lautet das Ergebnis, und Sandra hat nun das Wochenende Zeit, die Mehrheit ihrer Kollegen davon zu überzeugen, dass sie sich doch gegen das Geld und für sie entscheiden. Unterstützt von ihrem Mann Manu (Fabrizio Rongione) klappert sie die Stadt ab … Die belgischen Regiebrüder sind neben dem Briten Ken Loach die engagiertesten Regisseure von Sozialdramen. Ihre preisgekrönten Filme wie „Rosetta“, „Das Kind“ oder „Der Junge mit dem Fahrrad“ rücken die Nöte und Träume von Menschen in den Mittelpunkt, die an der nach unten durchlässigen Grenze zwischen unterer Mittelschicht und Prekariat um ein besseres Leben kämpfen. In „Zwei Tage, eine Nacht“ spitzen die Dardennes die Brutalität des modernen Berufslebens absichtlich zu, um zu veranschaulichen, wie grausam der obsessive Fokus auf Leistung den Menschen mitspielt. Denn Sandra hat sich nach einer Depression wieder ins Leben und in ihren Job zurückgekämpft.
Eine Hymne auf die Solidarität
Der Verlust ihres Arbeitsplatzes würde ihre Familie nicht nur finanziell schwer treffen, sondern ihr auch den Sinn nehmen, den sie gerade erst wiedergefunden hatte. Aber Kranke und Schwache haben kein Mitleid zu erwarten, Sandra ist als menschliche Ressource vorübergehend versiegt und beginnt nur zäh wieder zu sprudeln. Zu wenig. Sie bringe nicht die volle Leistung, verrät ihr ein Kollege die Worte des Chefs, und fügt ungefragt hinzu: „Ohne dich geht es eh besser.“ Natürlich wollen die Dardennes eine moralisch verrottete Welt anklagen, die Sandras Kollegen eine solche Entscheidung zwischen Mensch und Moneten aufbürdet. Auch stellen sie fest, dass der Mensch dem Menschen im Hobbesschen Sinne durchaus noch ein Wolf ist – nur dass der Krieg aller gegen alle heute durch die Privatwirtschaft und staatliche Deregulierungen auf das Feld der Erwerbstätigkeit verlagert wurde. Aber der Film ist nicht nur Kritik. Er ist vor allem eine Hymne auf die Solidarität, auf die Kraft des Widerstandes, des Mutes und des Miteinanders. Sandra, von Cotillard gleichermaßen verletzlich und unnachgiebig gespielt, geht mit scheuem Blick von Wohnung zu Wohnung. Ihre Schritte sind schnell und klein, ihr Körper ist abgezehrt, aber sehnig, ihre Stimme brüchig, doch tapfer. Die Stimmungsaufheller, die sie braucht, um ihren 48-stündigen Bittgang durchzuhalten, spült sie mit Unmengen Wasser herunter, immer wieder muss Manu sie aufs Neue antreiben, wenn sie aufgeben will – das Leben im Kapitalismus, ein Iron Man für Gelegenheitsjogger. Aber Sandra gibt nicht auf, auch wenn sie teils heftige Unwuchten in den Leben ihrer Kollegen verursacht.
„Zwei Tage, eine Nacht“ funktioniert als sachliches Drama
Es fließen Tränen, es fliegen die Fäuste, es gibt Streit und sogar Trennungen. Denn hinter den Türen, die sich Sandra meist nur zögerlich öffnen, verbergen sich sehr ähnliche finanzielle Nöte: Der Tochter muss das Studium finanziert sein, Wasser und Strom für ein Jahr müssen bezahlt werden, wenn nicht sowieso schon ein Schwarzgeldjob nötig ist, um über die Runden zu kommen oder der auslaufende Zeitvertrag arbeitgeberkonformes Abstimmen verlangt. Doch, und das sagt der Film mit Emphase, Nähe hilft. Im direkten Kontakt, aus der Anonymität der eigenen Sorgenuniversums herausgetrieben, treten einige Kollegen den Keil, den der Chef zwischen sie und Sandra getrieben hat, aus der Tür, die sich dann eben nicht vor Sandras Nase schließt. Die Dardennes begehen dabei nicht den Fehler, Sandra zu Heiligen zu stilisieren. Immer schwebt über ihrem Anliegen auch Egoismus und die Frage, wie Sandra sich verhalten würde, wenn jemand sie auffordern würde, auf Geld zu verzichten, das sie dringend braucht. „Zwei Tage, eine Nacht“ funktioniert immer als sachliches Drama, niemals als visuelle Gewerkschaftspostille. Ein Happy End können die Dardennes am Ende konsequenterweise nicht anbieten, Sandra wird ihren Job verlieren. Aber sie wird etwas anderes finden, das noch wichtiger ist. (vs)