Wo ist Anne Frank (2022)

Ihr Tagebuch ist eines der eindrücklichsten und wirkmächtigsten Dokumente des Holocaust. Bereits 2017 hatte Ari Folman die Geschichte Anne Franks als Graphic Novel umgesetzt. In seinem Comic „Wo ist Anne“, den er nun selbst als Animationsfilm adaptierte, findet der israelische Filmemacher nochmals einen ganz neuen, sehr freien und phantasievollen Ansatz. Denn im Zentrum steht hier Kitty, jene imaginäre Freundin, an die Anne Frank ihre Tagebuchaufzeichnungen gerichtet hatte. In einer Gewitternacht wird Kitty im Anne-Frank-Haus zum Leben erweckt und irrt durch das Amsterdam der Jetztzeit. Erst nach und nach erfährt sie vom Schicksal Anne Franks und deren Familie. Der Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart erscheint bisweilen zwar etwas beliebig, eine Hetzjagd nach dem von Kitty aus dem Museum entwendeten Tagebuch unnötig actionreich.

Folman jedoch möchte mit solchen Mitteln ein junges Publikum fesseln und ihm Parallelen im Heute aufzeigen: der Ignoranz gegenüber dem alltäglichen Rassismus und dem empathielosen Umgang mit Flüchtlingen. Zugleich kritisiert Folman eindrücklich die Vermarktung und Banalisierung des Namens Anne Frank, etwa wenn zeigt, wie sich Touristenscharen gelangweilt durch die Gedenkstätte schieben. Kitty entwickelt sich dabei von einem frechen aber dennoch naiv-unschuldigen Mädchen zu einer entschlossenen Aktivistin.

Wie schon in seinem Meisterwerk „Waltz with Bashir“ beweist Folman auch mit „Wo ist Anne Frank“ ein feines Gespür für Zwischentöne und gestalterische Vielfalt. Da verwandeln sich etwa in Anne Franks Tagträumen und Fantasien ihr Leinwandidol Clark Gable und Gestalten aus der griechischen Mythologie zu ihren Rettern, in anderen Szenen marschieren – wie in Alan Parkers „The Wall“ – maskenhafte und furchteinflößende Nazihorden im Gleichschritt durch die Grachtenstadt, die sich in der Gegenwart wiederum idyllisch in winterlicher Atmosphäre präsentiert.

Und wenn sich Kitty zu weit vom Tagebuch entfernt, beginnt sie wie Tinte zu zerfließen. So gelingt es Ari Foleman nicht nur, die verschiedenen Zeitebenen miteinander zu verschmelzen, sondern auch für die extrem unterschiedlichen Situationen und Stimmungen zwischen Teenager-Verliebtheiten und Todesangst den passenden Animationsstil zu finden.