MünsterBoyhood (2014)
- Originaltitel Boyhood
- Regie Richard Linklater
- DarstellerInnen
- Buch Richard Linklater
- Entstehungsjahr 2014
- Land USA
- Filmlänge 165 min
- Filmstart 5.6.2014
- FSK 6
- Genres
Bewertung
Filminhalt
Zeit ist ein festes Thema in den Filmen von Richard Linklater. Schon in seiner „Before“-Reihe mit Ethan Hawke und Julie Delpy ging es darum, herauszufinden, was passiert, wenn man von seiner alltäglichen Zeitschiene abweicht, nur kurz, mit einer spontanen Bekanntschaft durch eine fremde Stadt flaniert, sich verliebt und wieder auf seine Lebens-Timeline zurückkehrt. In seinem neuen Film schaut sich Linklater nun an, wie die Zeit unser Leben kontinuierlich verändert und uns als Mensch modifiziert. An „Boyhood“ hat der 53-Jährige über zwölf Jahre gedreht. Da Linklater der Lebensgeschichte eines Jungen zwischen sechs und 18 folgen wollte, vom ersten Schuljahr bis zum ersten Tag am College, drehte er jedes Jahr mit denselben Schauspielern ein kleines Stück Film, von 2002 bis 2014. Neben seinem Lieblingsdarsteller Ethan Hawke als Vater besetzte Linklater Patricia Arquette als Mutter und seine eigene, zu Beginn der Dreharbeiten neunjährige Tochter Lorelei als ältere Schwester der Hauptfigur, für die er den aus Austin stammenden siebenjährigen Ellar Coltrane auswählte. Das Drehbuch musste jedes Jahr vor den kurzen Dreharbeiten an die Entwicklung von Ellar angepasst und fortgeschrieben werden; die ganze Langzeitstudie war ein unüberschaubares Risiko.
In „Boyhood“ altern Menschen auf der Leinwand
Niemand konnte wissen, ob sich Ellar überhaupt als tragfähiger Schauspieler herausstellen und so lange Jahre Lust auf das Projekt haben würde. Was wäre passiert, wenn er für ein Schuljahr nach Australien gegangen oder nach Berlin gezogen wäre? Linklater ließ die Veränderungen seines Hauptdarstellers in seine Story einfließen, Fiktion und Realität verschmolzen so zu einem Film, der intim ist wie ein Familienfotoalbum und gleichzeitig episch wie ein großer Roman oder eine Dramaserie mit vielen Staffeln. Wie in keinem Spielfilm zuvor sieht man in „Boyhood“ Menschen auf der Leinwand altern – ohne digitale Effekte, ohne Make-up, ohne Tricks mit der Kamera oder am Schneidetisch. Hawke bleibt drahtig, kriegt aber schütteres Haar, Arquette legt über die Jahre an Gewicht zu, Coltrane wird zum schlaksigen Teenager mit Hängearmen. Im Gegensatz zu anderen Coming-of-Age-Filmen legt Linklater den Fokus nicht auf die dramaturgisch schlagkräftigen Momente im Leben eines Heranwachsenden wie den ersten Kuss oder den ersten Sex. Vielmehr betont der Film den Cameo-Charakter, den die meisten Menschen in unserem Leben haben, erst recht in dem eines Scheidungskindes wie Mason: Väter, Stiefväter, Freunde, Chefs, Verwandte, Lehrer, Freundinnen – sie alle kommen und gehen, ohne Vorankündigung und ohne Comeback. Genau wie der Blick zurück auf das Haus, aus dem man wegzieht ist, an der nächsten Ecke endet, weil das einstige Zuhause außer Sicht gerät.
Bowling, Baseball und Obama-Wahlkampf
Aufbruch, Abbruch, Umbruch: Subtil schildert Linklater, wie die Geschwister um die Gunst von Vater und Mutter buhlen, wie die Eltern um die Zuneigung ihrer Kinder kämpfen. Und dass die kleinen, vermeintlich unwichtigen Momente nun einmal das Gros der Augenblicke im Leben ausmachen – Bowling, Baseball und Obama-Wahlkampf mit Daddy, Streit mit den wechselnden Freunden von Mum, Besuche bei den Großeltern auf dem Land, kiffen, saufen, Schule. So entwickelt der Film eine immense Lebensnähe und Wahrhaftigkeit, auch wenn man in Nordeuropa lebt und nicht in Texas. Bei Linklater wird von Haus aus viel geredet, und auch in „Boyhood“ sieht man zumeist talking heads, Menschen, die über grundlegende Fragen des Daseins philosophieren, in dem bisher sicher wortwörtlichsten Coming-of-Age-Film der Geschichte. Glaubhafter kann man die Entwicklung eines Kindes zum Mann nicht abbilden, als auch den Schauspieler der Filmfigur bei seinem persönlichen coming of age zu begleiten. Kein Film, der keine Dokumentation ist, hat bisher so ungefiltert eingefangen, was es bedeutet, Mensch zu sein. „Boyhood“ ist wie jede Kindheit und jede Jugend ganz normal – und doch für sich genommen auch eine kleine Sensation. (vs)