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Meine Stunden mit Leo (2022)

Meine Stunden mit Leo (Poster)

Bewertung

„Muss man sehen“ kulturmovies

Filminhalt

Dieser Film kann eigentlich gar nicht funktionieren – die Menge seiner gesellschaftspolitischen Anliegen ist so immens, er müsste eigentlich ein humorloser, weltverbesserischer Talkshowgast sein. Und doch: „Meine Stunden mit Leo“ funktioniert – und wie! Die Gründe dafür sind vielfältig, man kann sie aber fürs Erste auf zwei Aspekte begrenzen: Weil alle Anliegen hier richtig, angemessen und überfällig sind, und weil all dies auch noch mit Humor präsentiert wird: Sex Positivity, Body Positivity, Sexarbeit als anerkannter und nicht diskriminierter Beruf, sexuelle Sichtbarkeit von Frauen jenseits der 40, Einsamkeit, Gleichberechtigung, Empowerment – diese gewichtigen Themen in unseren überhitzten Shitstorm-und Aggrokommunikation-Zeiten bereiten Autorin Katy Brand und Regisseurin Sophie Hyde beeindruckend aufgeräumt auf. Und brauchen dazu nicht mehr als eine famose, unerschrockene Hauptdarstellerin und ein Hotelzimmer.

Emma Thompson, immer schon eine Vorkämpferin für Frauenrechte und Emanzipation, spielt die pensionierte Religionslehrerin Nancy Stokes, die etwas für ihre Verhältnisse Ungeheuerliches tut: Sie bucht sich die Dienste eines Callboys. Denn Nancy hatte noch nie einen Orgasmus und mit ihrem verstorbenen Ehemann Sex, der so erfüllend war wie das Ausfüllen einer Steuerklärung. Auftritt Leo Grande (Daryl McCormack), mit dem die zuerst völlig nervöse Nancy 31 Jahre unausgelebte Sexualität nachholen will, vom gegenseitigen Oralsex über Stellung 69 bis zum Doggy Style. Leo, einfühlsam, smooth, ohne jede Scheu, muss bei der von Körperscham überwältigten Nancy bei vier Treffen sein ganzes Können unter Beweis stellen – vor allem im Reden …

Dies ist kein Hollywoodfilm, keine klischeehafte romantische Komödie, dazu werden viel zu viele Dinge offen an- und ausgesprochen, die im Kino allzu oft tabu sind. Es ist aber auch kein Depri-Drücker, der thesenhaft vom Patriarchat verursachtes Leid und Ungerechtigkeiten an Frauen rezitiert. Das liegt zum einen am pointierten Drehbuch, das keine Scheu vor drastischen Wahrheiten hat, aber auch keine Angst vor einem guten Oneliner. Es liegt zum anderen an Emma Thompsons brillanter Komik und ihrem Mut zur Selbstentblößung. Wie sie trockene britische Gags zelebriert, während sie halb bis ganz nackt ihren 63-jährige Körper zeigt: Das ist – auch wenn man es als Mann gar nicht in seiner ganzen Tragweite beurteilen kann – nichts Geringeres als eine Sensation, in einer Gegenwart, die jedes Fältchen an einer Frau wegbotoxt oder die Frau gleich ganz verschwinden lässt. Oder wann haben Sie zuletzt einen Film mit Julia Roberts (54) oder ein Interview mit Madonna (63) oder eine 65-jährige Moderatorin im Fernsehen gesehen?

Man muss auch sehr genau suchen, wenn man einen anderen modernen Mainstream-Film finden möchte, in dem ein wohlgebauter 30-Jähriger und eine Seniorin rumbumsen. Vermutung: Es gibt keinen. Wenn Emma Thompson am Schluss ihren Badematel auszieht und mit uns zusammen ihren nackten, von den Spuren des Lebens gezeichneten Körper ansieht, prüft und dann schließlich glücklich lächelt, dann öffnet sich auch für uns die Tür zu einer anderen, besseren Welt. vs

  • Meine Stunden mit Leo (Filmbild 2)
  • Meine Stunden mit Leo (Filmbild 3)
  • Meine Stunden mit Leo (Filmbild 4)
  • Meine Stunden mit Leo (Filmbild 5)