Anatomie eines Falls (2023)

Als die Romanautorin Sandra Voyter (Sandra Hüller) gleich zu Beginn des Films zu Hause von einer Studentin interviewt wird, dreht Sandras Ehemann Samuel die Musik im ersten Stock des Chalets so weit auf, dass ein Gespräch nicht mehr möglich ist und das Interview abgebrochen werden muss. Wenige Stunden später liegt Samuel (Samuel Theis) tot vor dem Chalet – er ist aus dem Dachgeschoss gestürzt, das er gerade restauriert. Gefunden wird er von Daniel, dem elfjährigen sehbehinderten Sohn der beiden.

War es Mord? Ein Unfall? Oder gar Selbstmord? Die Staatsanwaltschaft geht schon sehr bald von Mord aus und klagt Sandra an. Regisseurin Justine Triet wollte für diesen Film, der in Cannes die Goldene Palme gewann, unbedingt Sandra Hüller in der Hauptrolle besetzen, und der Film zeigt, warum sie damit absolut Recht hatte: Hüller liefert in der Rolle der Mordverdächtigen eine exzellente schauspielerische Leistung. Sie muss als Sandra Voyter den gesamten Film über klar überzeugt sein, dass sie nicht die Mörderin ihres Mannes ist. Der Film aber lässt sie damit alleine: die Überzeugung, dass sie es nicht war, kann nur von ihr selbst kommen, und Sandra Hüller überzeugt auf ganzer Linie.

Nicht nur, dass sie sich einer ständigen misogynen Tendenz in der Argumentation des Staatsanwaltes erwehren muss, auch Audio-Aufnahmen ihres Mannes von häuslichen Streitereien werden im Gericht abgespielt. Sandra wird sexuelle Untreue vorgeworfen, die sie nie leugnet, literarischer Diebstahl gegenüber ihrem eigenen Mann kommt als Vorwurf ins Spiel, und überhaupt: Hartherzigkeit als Vorstufe zur Entscheidung, ihren Mann umzubringen, schwingt in Ermangelung von eindeutigen Beweisen immer wieder als Indiz für einen Mord in der Beweisführung der Staatsanwalt mit.

Der Sohn zweifelt. Samuels Psychologe beschuldigt Sandra. Doch was ist die Wahrheit? Hört man auf den Aufnahmen eine körperliche Auseinandersetzung der beiden, oder schlägt Samuel frustriert die Faust gegen die Wand, wie Sandra sagt? Hat sie kurz vor Samuels Tod und nach einem heftigen Streit wirklich zunächst eine Übersetzung im Schlafzimmer abgeschlossen und hinterher auch noch geschlafen? Die ruhige, sachliche und dabei dennoch emotional überzeugende Art, wie Sandra Hüller Sandra Voyter im Gericht spielt, ist neben der Komplexität des dialogreichen Drehbuchs das Pfund, mit dem Regisseurin Justine Triet wuchert. Hüller sagte in einem Interview, Triet habe ihr nie verraten wollen, ob Sandra Voyter schuldig oder unschuldig ist. Sie solle aber voll und ganz von ihrer Unschuld überzeugt sein. Und das ist die Angeklagte, die immer wieder eindringlich beteuert, dass eine Beziehung von innen meistens viel komplexer und ambivalenter sei als von außen beobachtet, dass weder eine Audioaufnahme noch die Aussage eines Psychologen zwangsläufig die Wahrheit, sondern nur eine Seite darstellten.

Der Film „Anatomie eines Falls“ hat in Cannes als bester Film des Festivals die goldene Palme gewonnen. Sandra Hüller hätte durchaus auch die goldene Palme verdient, denn sie trägt den Film, und das wusste Justine Triet schon vor Drehbeginn.