Alcarràs – Die letzte Ernte (2022)
- Originaltitel Alcarràs
- Regie Carla Simon Pipó
- DarstellerInnen
- Entstehungsjahr 2022
- Land Spanien
- Filmlänge 120 min
- Filmstart 11.8.2022
- FSK 6
- Genres
Bewertung
Filminhalt
Am Ende von „Alcarràs“, wenn der Abspann läuft, geht es einem wie der Berlinale-Jury: Man ist überrascht, dass die Familienmitglieder im echten Leben gar nicht miteinander verwandt sind – und viel weniger überrascht, wenn man erfährt, dass sie sich gegenseitig bis heute bei ihren Filmnamen nennen. Denn die Familie, die sie gemeinsam spielen, wirkt echter als echt. Egal ob sie streitet, zankt oder einfach nur beieinander sitzt, es sitzt jede Geste und jeder Blick – und wir staunen, dass nichts davon wahr sein soll.
Filme wie „Alcarràs“ laden Kritiker:innen ein, lang und breit über die Beziehung zwischen Fiktion und Wahrheit zu schwadronieren. Genau das wäre aber nicht im Sinne des Berlinale-Gewinners, denn er erzählt eine im Kern überaus simple, darum aber nicht seichte Geschichte: Die Großfamilie Solé baut schon seit Generationen Pfirsiche im katalanischen Dorf Alcarrás an – bis der Besitzer beschließt, das Land für Solaranlagen zu nutzen. Das wirft die Solés gehörig aus der Bahn: Vater Quimet (Jordi Pujol Dolcet) will nicht akzeptieren, dass er bald kein Bauer mehr sein wird, während Schwager Cisco (Carlos Cabós) versucht, sich mit der neuen Welt anzufreunden. Obwohl Quimets Frau Dolors (Anna Otín) und seine Schwestern zu schlichten versuchen, treibt der Streit einen Keil quer durch die Familie – und am stärksten leiden wie immer die Kinder …
Regisseurin Carla Simón hat sich für ihren zweiten Spielfilm von ihrer Familiengeschichte inspirieren lassen und in Katalonien mit Laienschauspieler:innen gearbeitet, die zu großen Teilen selbst aus der Landwirtschaft kommen. Dem Dreh ging ein langer Erarbeitungsprozess voran, der an den britischen Regisseur Mike Leigh erinnert: Als die erste Klappe fiel, waren alle Darsteller:innen schon eng mit ihren Figuren verwachsen – und sie spielen grandios, bis hin zu den jüngsten Kindern.
Um diesen Kern aus Wirklichkeit hat Simón ihren Film geformt. Ihre Kamera folgt dem Ensemble oft auf fast dokumentarische Art, doch jede Einstellung ist bewusst gewählt. Simón vertraut ihrem Publikum: Hintergründe, Zusammenhänge, selbst Verwandtschaftsgrade entfalten sich erst nach und nach mit souveräner Ruhe. Wenn Großvater Rogelio (Josep Abad) dann frühmorgens zwischen den tiefgrünen Pfirsichbäumen steht, wenn bei einer Familienfeier ein unschuldig angestimmtes Lied plötzlich ungeahnte Emotionen weckt, wenn Quimet endlich seiner Frustration freien Lauf lässt, sind das einige der bewegendsten Momente, die das Kino in diesem Jahr zu bieten hat. Wie Schauspieler und Ex-Bauer Dolcet lapidar sagte: „Ich muss keine Filme machen. Aber ich bin glücklich, dass ich diesen gemacht habe.“ Er ist nicht allein.
Matthias Jordan